Arbeiterforelle, Filet im Darm, Clöpfer oder Servila. Unsere Nationalwurst trägt viele Namen und sie ist eng mit der Geschichte unseres Landes verbunden. Wieder einmal kämpft sie mit Qualitätsproblemen.
Bild: Ein Paar handwerklich hergestellte Cervelats der Metzgerei Schmid in St. Gallen
Vor rund hundertfünfzig Jahren wurde der Fleischwolf erfunden. Dadurch konnten Würste endlich in grossen Mengen hergestellt werden und das älteste Schweizer Fast-Food war geboren: Der Cervelat.
Würste waren damals nichts Neues. Sie wurden bereits seit Jahrhunderten in allen Schichten gerne gegessen. Es gab bereits eine grosse Vielfalt an regionalen Wurstrezepten, aber mit der Möglichkeit der "Massenfertigung" wurden Würste für alle Schichten besser erhältlich. In Form von Würsten wurde Fleisch auch für ärmere Schichten im Alltag erschwinglich.
Vor 1850 waren Würste meist nur in Zusammenhang mit Hausschlachtungen hergestellt worden, auf dem Land wurden sie vor allem an Festtagen aufgetischt. Mit der Erfindung des Fleischwolfes verlagerte sich die Wurstproduktion von den bäuerlichen Küchen in spezialisierte Metzgereien.
Im 19. Jahrhundert hat sich die Schweiz massiv verändert. Mit der Eisenbahn war die Lebensmittellogistik derart verbessert worden, dass die Bauern sich vermehrt spezialisierten konnten. Viele setzten auf die Käseproduktion, was in vielen Regionen der Schweiz auch zu einer drastisch vergrösserten Zahl von Schweinen führte, da diese mit Nebenprodukten der Käseherstellung (Molke) gemästet werden konnten.
1848 wurde der Schweizerische Bundesstaat gegründet. Das neue Staatskonstrukt war jedoch anfänglich noch etwas wacklig. Es bestand wenig Zusammenhalt zwischen den Kantonen, die bisher nur ein loser Staatenbund gewesen waren. Das 19. Jahrhundert war aber auch die Zeit der Volksfeste in der Schweiz. Sie erwiesen sich als wichtiger Kitt für den Zusammenhalt der Kantone und für die Bildung des Nationalstaates Schweiz. An den grossen Schützen- und Sängerfesten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mussten oft mehrere tausend Menschen aufs Mal verpflegt werden. Dies war kein einfaches Unterfangen, denn damals waren die Kühlmöglichkeiten sehr beschränkt und die Feste fanden meist im Hochsommer statt. Als ideales Essen für grosse Volksmassen erwiesen sich damals die Brühwürste. Sie waren handlich, nahrhaft, vergleichsweise gut zu lagern und unkompliziert für hungrige Esser. Ausserdem haftete ihnen das Image von Festessen an, da Würste früher oft an Festen gegessen wurden. So wurde der Cervelat zur Nationalwurst der Schweiz. Allerdings hatte die rötliche Brühwurst anfänglich grosse Mühe, sich gegen lokale Würste durchzusetzen. Bis Anfangs des zwanzigsten Jahrhunderts wurden an vielen Voksfesten mehr lokale Wurstspezialitäten verkauft als Cervelats, weil diese den Besucherinnen und Besuchern einfach besser mundeten. Dies änderte sich erst nach dem Ersten Weltkrieg.
Bild: Schützenfest in Genf 1886 (Quelle: Historisches Lexikon der Schweiz)
Der Cervelat war damals eine unbekannte Wurst, sie kam aus dem süddeutschen Raum und war nicht typisch für eine Schweizer Region. Darum eignete sie sich auch als überregional verbindende Wurst der Schweiz. Die anfängliche Zurückhaltung der Menschen gegenüber dem Cervelat hatte aber noch andere weit einleuchtendere Gründe. Die Wurst kämpfte immer wieder mit Qualitätsproblemen. Schon damals wurde immer wieder versucht, mit billigerem oft minderwertigem Fleisch zu arbeiten.
In jener Zeit wurde der Cervelat auch zur Arbeiterwurst. Dies hatte auch damit zu tun, dass diese Wurst auch kalt gegessen werden konnte und sich daher als Mittagsverpflegung für Arbeiter in der Fabrik eignete.
Erst in den dreissiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts verbesserte sich die Qualität der Cervelats markant, denn im Zug der geistigen Landesverteidigung investierten die Metzger verstärkt in die Qualität der Nationalwurst. Ihr Brät wurde feiner und ebenmässiger und auch die Würzung wurde konstanter und ausgewogener.
Vor dem zweiten Weltkrieg wurde die Qualität des Cervelats der Stolz jedes gewerblichen Metzgers und es herrschte eine rege Konkurrenz um die beste Nationalwurst. Damals befand sich der Schweizer Cervelat auf dem qualitativen Höhepunkt.
In den 50er Jahren wurde der "Blitz" erfunden, das ist eine Brätmaschine, die der Wurstmasse regelmässig Eis beimengen kann, was zu einer noch feineren Emulsion des Bräts führte. Dennoch begann bereits damals der Niedergang der Königin der Schweizer Würste. Der Grund dafür war die vermehrte industrielle Herstellung und der Preiszerfall. Der Cervelat wurde zunehmend zur Billigwurst. Dies hat dazu geführt, dass immer mehr gewerbliche Metzger darauf verzichtet haben, die Wurst, auf die sie früher so stolz gewesen waren, noch selbst zu produzieren. Die Herstellung war ihnen zu aufwändig geworden für den bescheidenen Preis, den sie dafür bekommen konnten. Dies führte zu einem erneuten Qualitätszerfall, den man vor allem schmeckt, wenn man den Cervelat kalt isst.
Video oben: Wurstherstellung in den 80er Jahren
Heute sind Cervelats nur noch Schatten der stolzen Würste aus den dreissiger Jahren. Sie schaffen es immer noch, Heimatgefühle auszulösen, aber die Sehnsucht nach einer guten Wurst vermögen sie kaum mehr zu befriedigen. Dennoch werden sie in der Schweiz immer noch millionenfach verzehrt, im Sommer hauptsächlich in Form von Wurstsalaten oder vom Grill.
Im Kern ist der Cervelat eine sehr gute und vielseitig verwendbare Wurst, man kann sie kalt essen, zu einem feinen Wurstsalat verarbeiten, auf dem Grill braten oder bei guter Qualität in Wein sanft garen, man kann damit wunderbar herzhafte Gerichte zaubern, zum Beispiel ein Arbeiter-Cordon Bleu, oder sie einfach nur kalt mit etwas Senf zu einem Glas Bier geniessen. Dies sind alles Gründe für einen erneuten Anlauf der Rettung der Qualität dieser Wurst, es wäre doch schade, wenn ausgerechnet unsere Nationalwurst aussterben würde, und sie nur noch in Form der Cervelat-Prominenz erhalten bliebe.
Liebe Metzger, bitte nehmt doch einen neuen Anlauf und zeigt uns, was in einem guten Cervelat drin stecken kann. Nehmt einfach beste Zutaten und gebt Euch wieder mehr Mühe, dann werdet Ihr selbst überrascht sein, wie gut er schmecken kann unser Cervelat. Allerdings müssten die Konsumentinnen und Konsumenten bereit sein, für ihren Genuss etwas mehr zu bezahlen.
In einem guten Cervelat stecken nämlich keine Abfallprodukte und schon gar keine Innereien und kein Hirn, die viele Französischkenner meinen. In einen guten Cervelat gehören gutes Rindfleisch und etwas Schweinefleisch, Schwarte und Speck, wobei der Fleischanteil mindestens 45% betragen sollte. Als Würze werden Frischzwiebeln beigemengt, neben dem Salz runden Pfeffer, Koriander, Muskatnuss, Knoblauch und Nelken das Ganze geschmacklich ab. Wichtig ist auch die Konsistenz des Bräts, es muss fein sein, dennoch sollten kleine Stückchen Schwarte sichtbar sein, sie geben dem Ganzen Kontur und einen feinen Biss.
Die Wurst wird abgefüllt in Rindskranzdärme und dann drei Mal 20 Minuten lang heiss geräuchert. Anschliessend wird die Wurst eine halbe Stunde lang in 75 Grad heissem Wasser gebrüht und mit einer Wurstdusche und im Wasserbad sanft gekühlt, damit ihre Haut nicht schrumplig wird.
Wer das Glück hatte, bei einem Metzger einen guten Cervelat zu ergattern, der kennt die Qualitätsmerkmale und er oder sie wird sich nie mehr mit einem Billigprodukt zufrieden geben, das zwar ähnlich aussieht, aber die Esserin enttäuscht und unbefriedigt zurücklässt. Und ich wette, dass bei mehr Sorgfalt in der Cervelatproduktion auch die Qualität der Cervelat-Prominenz in der Schweiz wieder zunimmt.
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