Hunger ist ein Gefühl, das mit einer Zigarette leicht gedämpft werden kann. Um zu verschwinden braucht es aber meist einige Kalorien. Dabei kommt es nicht besonders drauf an, worin diese wärmenden Energieeinheiten stecken, gegen Hungergefühle hilft fast alles, was man kauen und verdauen kann. Darum essen wir oft nur auf die Schnelle, einfach um das leere Gefühl im Bauch los zu werden, wir löffeln ein Joghurt, beissen in einen Wrap oder stopfen ein Sandwich in uns hinein. Dies war schon früher so. Schon vor hundert Jahren diente das Essen meistens nur der Vertreibung der Hungergefühle und das tat man mit dem was damals so da war, etwa mit Brot und Suppe oder mit allem was der Garten hergab.
Heute sind unsere Massnahmen gegen Hunger zwar etwas abwechslungsreicher, süsser und viel fleischlastiger geworden, aber es geht auch heute noch bei den meisten Mahlzeiten nicht um Hochgenuss, sondern nur um Verpflegung. Dagegen ist nichts einzuwenden, auch Verpflegung kann gesund und gut sein.
Verpflegung nährt uns, aber sie weckt so wenig Gefühle in uns wie andere notwendige Übel. Essen kann aber auch ganz anders, es kann uns begeistern, berühren, öffnen. Seltsamerweise tut es dies besonders in Gesellschaft. Und weil das Kochen für mehrere Leute so aufwändig und anstrengend ist, wurden vor etwas mehr als mehr als 200 Jahren die Restaurants erfunden. Seit die Bourgeoisie in Frankreich den Adel von ganz oben verdrängt hat, gibt es Restaurants für alle, die sich das leisten können. Übrigens, das Wort Restaurant, kommt vom Französischen se restaurer heisst sich erholen, sich erquicken. Der Wirt des ersten Restaurants erstritt sich Ende des 18. Jahrhunderts das Recht, nicht nur Suppen servieren zu dürfen, sondern auch gebratenes Geflügel oder gekochte Lammhaxen, was seinen Gästen damals besonders schmeckte. Restaurants wurden auch rasch zu Orten des Austausches, der Debatte und des Genusses.
Das Flavour's in Chur
Solche Orte gibt es heute noch. Etwa das Restaurant Flavour's in Chur, es ist ein schlichter, etwas verwinkelter Raum in einem älteren Haus in der Altstadt. Man sitzt an Holztischen und vor jedem Gast liegt eine blütenweisse Stoffserviette. Der Trolley für die Spirituosen, der so typisch ist für gehobenere Restaurants, besteht aus einem offenen Green Egg, also dem wahnsinnig teuren Super-Grill, den so viele auf ihrer Terrasse haben, ohne wirklich damit kochen oder grillen zu können.
Wir waren zu viert im Flavour's, hungrig nach einer Runde Golf und bester Laune, weil den ganzen Tag die Sonne schien und wir uns mitten in der Woche einen Tag lang frei genommen hatten.
Als erstes wurde uns ein kleines Lachs-Sashimi serviert. Ich muss gestehen, mir wurde gleich etwas flau, denn meist sind die Sashimis, die in nichtjapanischen Restaurants als Gruss aus der Küche kommen, etwas, was man am liebsten in der Handtasche entsorgen würde. Der Koch, Flavio Müller, stand jedoch in seiner Lederschürze ernst neben unseren Sashimi-Schälchen und erklärte, dass er die rohen Lachsstücke unter anderem mit Noix de Beurre, also mit brauner Butter, verfeinert habe. Nur leicht skeptisch angelte ich mir ein Stückchen Fisch aus dem Porzellan. Es entpuppte sich als lauwarm und löste augenblicklich ein unglaubliches Glücksgefühl in meinem Mund aus. Das süssliche leicht nussige Butteraroma trug den Lachs nicht nur aromatisch in ungeahnte Höhen, die Butter hatte den meist viel zu kalt servierten Fisch leicht angewärmt, so dass sich die ganze Aromenvielfalt dieses kleinen Gerichts zeigte. Wenn etwas den Namen Amuse Bouche verdient hat, dann diese Abwandlung des japanischen Klassikers. Dass Müller zum Sashimi ein kleines Stück leicht angetoastetes Brot servierte, um damit die restliche Sauce aufzutunken, mag in japanischen Augen ein Sakrileg sein, mir gefiel das ungemein, denn dadurch wurde dem Sashimi der letzte Rest von Schickimicki genommen, es wurde richtig gemütlich.
Als zweites kam ein einziges, riesiges Ravioli. Der Füllung war als Aromabooster ein rohes Eigelb beigegeben worden und zwar so, dass es beim Kochen der Pasta zwar lauwarm wurde, aber flüssig blieb. Ich verbrachte lange damit, darüber zu rätseln, wie das Eigelb im innern des Raviolo flüssig bleiben konnte im kochenden Wasser.
Unsere Tischgespräche störten das vorzügliche Essen nicht. Ich weiss zwar nicht mehr, worüber wir genau geredet haben, aber wir haben uns sehr wohl gefühlt. Ich erinnere mich noch wie die Stimmen der Tischnachbarn in den Hintergrund gerieten als ich den Raviolo aufschnitt und das Innere mit etwas Pasta auf meine Gabel nahm und in den Mund schob. Das Gefühl war unbeschreiblich befriedigend und gut.
Erleben, was das Green Egg drauf hat
Dann folgte der Hauptgang. Drei Mal perfekt gegrilltes Fleisch: Schön marmorierte, zarte Ribeye-Steaks aus Graubünden, ein an der Luft gereiftes Steak einer achtjährigen Kuh und ein Kotelette vom Bierschwein aus der Innerschweiz. Dazu Gnochi mit frischem Pesto, ein wunderbar sämiger Risotto und Gemüse. Das klingt jetzt nicht nach einem Menu der Spitzengastronomie, aber die Sachen waren auf dem Green Egg so perfekt zubereitet, dass das Essen eine helle Freude war. Das Schweinskotelett war so gebraten, dass es noch saftig war, und es zeigte, welche Delikatesse ein Schweinskotelett eigentlich ist, sofern es richtig zubereitet wird und von einem gut gehaltenen Tier stammt. Wie das Rindfleisch war alles als Tagliata geschnitten, so dass wir alle von den verschiedenen Stücken probieren konnten. Wir überfüllten uns entzückt die Mägen und bestellten übermütig nochmals eine Portion Gnochi und Risotto. Erst als der Nachschlag auf dem Tisch stand, entdeckte ich das unscheinbare kleine weisse Rahmkrüglein. Darin war ein wenig braune Sauce. Aus Gwunder leerte ich etwas davon auf das letzte Stück Kotelett. Die Sauce war der absolute Hammer und das Schlussbouquet des Hauptgangs. So eine wunderbar voll schmeckende und doch leichte Sauce hatte ich noch nie gekostet, sie verband sich mit dem saftigen Fleisch und brachte mich derart ins Schwärmen, dass ich völlig den Faden verlor und das Tischgespräch für eine Weile total ausblendete.
Ich mag eigentlich keine Desserts. Wenn das Essen richtig gut war, bin ich meist vorher schon so voll, das nix mehr geht. Darum hätte ich den Nachtisch am liebsten abbestellt, aber dann hätte ich eine weitere Überraschung verpasst.
Als ich mit dem Löffel durch die Karamellschicht der Crème brûlée drang, erwartete ich das, was meistens darunter ist, ein mehr oder weniger gut gemachter eher schwer verdaulicher Eierstich mit viel Rahm. Zu meiner Überraschung gesellte sich jedoch das feine Aroma von gutem Safran zum Karamell und zur erstaunlich leichten Crème. Auch das ist ein klassisches Gericht, aber so gut gemacht und leicht abgewandelt, dass es unvergesslich wird.
Flavour's ist sicher nicht das einzige Restaurant, in dem so man richtig gut restauriert wird, aber wenn Sie einmal in Chur sind, dann lohnt sich ein Besuch bei Flavio Müller und seiner Crew. Wer so ein Green-Egg zuhause hat und denkt, dass das Ding mehr kann als wahnsinnig heiss zu werden, sollte bei Flavio einen Green-Egg Kurs buchen, man will ja seine Gäste auch bei sich zuhause nicht einfach nur verpflegen.
Flavour's
Flavio Müller
Planaterrastrasse 1
CH-7000 Chur
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